Offener Brief an die Medien: 8 Jahre Gymnasium machen noch lange kein schlechtes Schulsystem!

Liebe Medien, liebe Medienvertreter*,

mir geht das auf die Nerven! Jedes Mal, wenn es mittlerweile um irgendwelche Schulthemen geht, bringt ihr das Argument „G8“, die Verkürzung des Gymnasiums auf 12 Jahre, und welche schlimmen, schlimmen Auswirkungen das doch auf die Bildung der Schüler* hat. Geschehen beispielsweise in dem Artikel von Spiegel online „CAS-Rechner im Mathe-Unterricht„. Dort heißt es „Es mangele am Verständnis für den Dreisatz oder die Prozentrechnung. Die Verkürzung des Abiturs auf acht Jahre erfordere klare Prioritäten im Mathe-Unterricht […].“ Mag sein, dass das an dieser Stelle nicht die Position des Autors und die von Spiegel Online wiedergibt, sondern mehr ein indirektes Zitat ist. Aber auch durch sowas werden Einstellungen reproduziert! Mag sein, dass ich übertreibe, weil es im gesamten Artikel ja nur eine ganz kurze Erwähnung zu dem G8-Thema gibt. Aber auch durch kurze Erwähnungen wird im Kopf des Lesers* das G8-System negativ besetzt, sogar mit Verdummung in Verbindung gebracht. Auf jeden Fall gewinnt der Leser* den Eindruck, die Verkürzung des Abiturs sei nicht gerechtfertigt, schlichtweg nicht ok, weil es damit ja nur Probleme gäbe.

Ich habe den Eindruck, dass deutsche Medien mehrheitlich negativ über die G8-Umstellung berichten bzw. unreflektiert Positionen der Betroffenen* (Lehrer*, Eltern, Schüler* – jaaa, in DER Reihenfolge) übernehmen. Ich kann leider nicht so viele Belege anbringen und wäre deshalb froh über entsprechende Artikelverweise in den Kommentaren.

Aus meinem subjektiven Eindruck heraus möchte ich aber alle Medien und Medienvertreter* auffordern, sich einmal vorurteilsfrei (haha) die Schullandschaft in Sachsen anzuschauen. Wirklich, fahren Sie mal nach Sachsen, gehen Sie in ein, zwei oder mehr Gymnasien und fragen sie die Schüler* dort, ob sie Probleme mit der G8-Umstellung haben. Ich prophezeie Ihnen, dass die meisten etwas verwirrt aussehen werden. Eventuell wissen die Schüler* aus der Berichterstattung, dass es diese G8-Umstellung gibt und was sie bedeutet. Am eigenen Leib erfahren haben sie die aber nie. In Sachsen gibt es nämlich schon immer nur 12 Jahre für das Abitur. Vor der Wende und auch nach der Wende. Sachsen hat sich 1990 für ein zwölfjähriges Abitur entschieden. Zwölf Jahre meint in diesem Fall vier Jahre Grundschule, acht Jahre Gymnasium (In Sachsen hat nie jemand von 8 Jahren Gymnasium gesprochen, immer nur von 10 Jahren bis zur Mittleren Reife und 12 Jahren bis zum Abitur). Bitte schauen Sie sich dann auch die bundesweiten Bildungsvergleiche an, in denen Sachsen immer sehr gut abschneidet. Vielleicht kommt Ihnen jetzt schon der Verdacht, dass es wohl möglicherweise gar keine Verbindung von G8 und dem Bildungsniveau geben könnte.

Vielleicht haben Sie aber noch nicht genug Zweifel. Dann dürfen Sie die sächsischen Schüler* gern noch mehr fragen, z.B. ob sie gern ein Jahr mehr Zeit in der Schule verbringen würden (haha). Ob die Schüler* überhaupt noch Zeit für andere Aktivitäten neben der Schule haben…. usw., je nachdem, was Sie speziell interessiert. Und damit das Bild etwas abgerundet wird, sollten Sie unbedingt auch noch mit den Eltern und den Lehrern* sprechen, denn die ziehen Sie, liebe Medien, ja auch gern in den Ländern mit G8-Umstellung zur Untermauerung Ihrer Thesen heran: Lehrer*, die sich beschweren, dass sie den Stoff nicht mehr schaffen, und Eltern, die jammern, weil ihre Sprösslinge auf einmal erst um 15 Uhr nach Hause kommen, soooo viele Hausaufgaben haben und gar keine Zeit mehr für den privaten Klavierunterricht! Jammer, jammer, heul, schluchz. Dieses Gejammere werden Sie in Sachsen nicht finden.

Wie Sie vielleicht gemerkt haben, komme ich ursprünglich aus Sachsen, bin dort aufgewachsen und bis zum Abitur zur Schule gegangen. Ich fühle mich umfassend gebildet, hatte nur selten den Eindruck, die Lehrer müssten durch den Stoff hetzen, war neben der Schule beim Volleyball, in der Informatik-AG und Chefredakteurin der Schülerzeitung. Gut, mir fiel die Schule auch sehr leicht. Aber ich kenne kaum jemanden von meinen damaligen Mitschülern, der nicht MINDESTENS eine Aktivität neben der Schule verfolgt hat: Chor, Sport-AGs oder im Verein, Musikschule, …. etc. Und das bis zur 12. Klasse! Um 15 Uhr zuhause zu sein war ab ca. 10. Klasse eher ein Luxus als die Normalität. Unsere Eltern wären nie auf den Gedanken gekommen, sich über ein „zu viel“ zu beschweren. Es gab auch gar keinen Grund.

Bei den Lehrern* gab es schon manchmal ein bisschen Unmut, dass sie bestimmte Themen nicht ausführlicher behandeln konnten und in Geschichte kamen wir in der 12. Klasse leider nur bis ca. 1970. Aber das lag weder am zu kurzen Schulzeitraum noch an den Lehrern*, sondern schlichtweg an einem kürzeren Schuljahr (aufgrund der komischen Ferienzeiträume) oder eben an unvorhersehbarer Krankheit, die leider nicht durch entsprechende Vertretungslehrer* kompensiert werden konnte. Und demnach lag es vor allem an anderen sozialen Zusammenhängen (kein Geld für mehr Lehrer*, Abwanderung junger Lehrer* aus Sachsen, ….) und politischen (!!!!) Zusammenhängen (Ferienuneinigkeit der Bundesländer, …).

Dass sich Lehrer* in den nun zu G8 umgestellten Ländern beschweren, ist nur folgerichtig. Schließlich müssen sie sich von langjährigen Plänen verabschieden, sich ganz neue Pläne für ihren Unterricht einfallen lassen, evtl. sogar innovative und neue Lehrmethoden anwenden (oh schreck) etc. (All das mussten die sächsischen Lehrer 1990 auch tun!). Das ist normal bei einer Veränderung und es ist auch normal, dass Lehrer* sich vor diesen Veränderungen scheuen 😉 Das ist sehr menschlich und somit auch völlig verständlich. Denn, wenn die Lehrer merken, dass sie den Stoff nicht schaffen, dann liegt es mehr an ihnen, als am Schulsystem. Nur, wer gibt sowas schon gerne zu? Da ist es doch nur logisch, den Schwarzen Peter der Ursache an sich zuzuschieben, nämlich diesem blöden G8-System. DAS macht alles kaputt!

Liebe Medienvertreter*, ich möchte wirklich nicht ‚mein‘ Schulsystem glorifizieren. Sicher gibt es auch am sächsischen System Kritikpunkte. Aber ich möchte Sie auffordern, etwas differenzierter auf Ihre bisher übliche Berichterstattung zur G8-Umstellung zu schauen. Bitte haben Sie immer im Hinterkopf: In Sachsen funktioniert G8 wunderbar und mit beträchtlichen Ergebnissen (siehe Schulvergleiche). Bitte überlegen Sie, ob die angebrachten Kritikpunkte am G8 nicht vielmehr an anderen Aspekten liegen, z.B. an anderen sozialen und politischen Zusammenhängen. Und bitte versuchen Sie, das G8-Argument aus Berichten, die nichts oder kaum mit dem G8-Thema zu tun haben, herauszuhalten.

Denn es geht mir auf die Nerven, dauernd lesen zu müssen, ich sei – vereinfacht ausgedrückt – dumm, d.h. ich wüsste weniger, hätte keine Freizeit in der Schule gehabt, usw. Das entspricht einfach nicht der Realität! Sie stoßen mich – und viele andere Sachsen* – damit vor den Kopf. Und Sie, liebe Medien, machen schlichtweg Ihre Arbeit nicht gut, wenn Sie so unreflektiert über das G8-System berichten. Zwölf Jahre Gymnasium (und damit ja nur ein Jahr – !!!!! – weniger als sonst) machen noch lange kein schlechtes Schulsystem!!! Aber wie sollen Sie, liebe Medienvertreter*, das wissen? Sie sind ja höchst wahrscheinlich selbst „nur“ G9er*, und Ihre Kollegen* aus Sachsen, naja, was sollen die schon groß zu sagen haben? Vielleicht fragen Sie das nächste Mal einfach nach.

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* Den Stern * nutze ich, um bei der maskulinen Form der Substantive deutlich zu machen, dass es noch andere Geschlechter gibt. Das ist meine persönliche Art des Genderns. Es verbindet die für mich sehr wichtige Lesbarkeit des Textes mit der Forderung des Genderns. Der Stern * bezeichnet traditionell ein „noch mehr“ als das auf den ersten Blick Erkennbare. Die üblichen Formen des Genderns (Binnen-I: LeserInnen; Unterstrich: Leser_innen; Gender-Star: Leser*innen) reproduzieren, meiner Ansicht nach, die Dualität zwischen männlich und weiblich, denn sie heben diesen Unterschied besonders hervor. Zudem werden Texte durch das „innen“ verlängert und teilweise verkompliziert bzw. unübersichtlich. Das widerstrebt meinem Sprach- und Textempfinden. Um beide Pole – Sprachgefühl und Gendern – zu verbinden, halte ich den Stern momentan für einen guten Kompromiss.